Am 02. Juli – dem Geburtstag meiner Mutter – hatte ich Anlass zu großer Freude: Nicht nur feierte meine liebe Mutter da einen großen runden Geburtstag (zusammen mit uns!), am gleichen Tag wurde im Museum für Sächsische Volkskunst in Dresden (Museum im “Jägerhof”) auch eine Ausstellung über Emil Lohse eröffnet, der mein Urgroßvater und ihr Großvater ist. Und mit dieser Ausstellung hat es eine ganz besondere Bewandnis.
Mein Urgroßvater war wie ich mit Leib und Seele Zeichner, zudem war er auch Zeichenlehrer (am “Lehrerseminar” in Dresden, das heißt, er lehrte das Zeichnen und bildete dort Zeichenlehrer aus), er war Scherenschneider (seine Scherenschnitte sind im sächsischen Raum bekannt und befinden sich zu einem großen Teil im Scherenschnittmuseum Schloss Lichtenwalde bei Chemnitz), Illustrator und, ab 1940, auf testamentarischen Wunsch des Museumsgründers Oskar Seyffert Leiter des Museums für Sächsische Volkskunst in Dresden. Dieses Haus widmet sich damals wie heute den reichen gestalterischen Traditionen der Region und stellt bemalte und geschnitzte Möbel, Spielzeug, Kleider und Trachten sowie Geschirr und viele andere kunsthandwerkliche Gegenstände aus Sachsen aus, und steht damit in der Tradition ähnlicher Museumsgründungen zu solchen Themenschwerpunkten vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Außerdem finden dort immer wieder interessante Sonderausstellungen statt, die thematisch im Zusammenhang mit dem Museumsschwerpunkt stehen.
Emil Lohse war in unserer Familie immer präsent. Vor allem seine feinen, genau beobachteten und sorgsam komponierten Scherenschnitte hingen zuhause an unseren Wänden, die Möbel der Familie Lohse, die meine Urgroßmutter mit in den Westen hatte nehmen können, standen teilweise bei uns im Wohnzimmer – schöne, am Biedermeier und den Dresdner Werkstätten orientierte Möbel in Kirschbaumholz. Ich war fasziniert von ihnen und Emils Scherenschnitten und mir wurde als Kind klar: Die Familie Lohse schien Geschmack gehabt zu haben! Außerdem war es eine erste Berührung mit jemandem, der offenbar veranlagt war wie ich, denn mein zeichnerisches Talent zeigte sich ebenfalls schon in der Kindheit und ich merkte: das musste wohl von Emil Lohse stammen. Leider lernte ich ihn nie kennen (wohingegen ich an meine Urgroßmutter Flora Lohse dunkle Erinnerungen habe): Er starb lange vor meiner Geburt, 1949.
In der Wohnung meiner Großmutter, der Tochter Emil Lohses also, die schräg über die Straße von uns wohnte, stand der Mappenschrank von meinem Urgroßvater. Ein Mappenschrank ist ein Schubladenschrank, der unterschiedliche Größen haben kann, in dem Künstler ihre papiernen Werke liegend aufbewahren und schützen können. Und Emils Schrank stand im Schlafzimmer meiner Großmutter Maria Rüber, zwischen zwei schönen alten Louis Philippe-Schränken, und ich ging immer daran vorbei, wenn ich in dem Zimmer Blumen goss, weil meine Oma auf Reisen war. Dabei bewunderte ich die schönen Schränke mit ihren Hölzern, und zwischen ihnen stand Emils Schrank, ordentlich, ein Büromöbel eigentlich und damit etwas fremd in einem solchen Raum. Auf ihm stand stets ein Abguss seiner Hände.
Als meine Oma 2007 starb, vermachte sie mir testamentarisch den Mappenschrank mitsamt seinem Inhalt. Ihre Worte in ihrem Testament lauteten: “Er wird wohl am besten wissen, wie mit dem Inhalt zu verfahren ist”. Tja, und da stand er nun. Emils Schrank. Inmitten meiner Berliner Wohnung, im Wohnzimmer eines jungen, in den Beruf startenden Illustrators. Vorsichtig zog ich die Schubladen auf und sah illustrative Schätze und Notizen in Mappen und Schatullen. Voller Ehrfurcht machte ich die Schubladen wieder zu, denn wie sollte ich mich diesem geballten Erbe stellen? Den vielen Schriftstücken, die Zeugnis von meinen Vorfahren und ihrem Leben ablegten? Den auch in der Familie umstrittenen Eckdaten, dem Eintrittsschreiben in die NSDAP, ohne das ihm ein Weiterführen des Museums wohl nicht möglich gewesen wäre in den schrecklichen Zeiten, in denen Emil Lohse sein Leiter war. Der Eigenerklärung nach dem Krieg, warum er – wohl in allerletzter Sekunde – eintrat. Schockiert war ich von einem Mappenwerk mit Zeichnungen des zerstörten Dresden, in denen die Leichenberge dokumentiert waren. Fasziniert hingegen von den vielen wunderbaren und schönen Naturstudien, die er angefertigt hatte (Tiere und Pflanzen waren seine Leidenschaft), den sorgsamen Beobachtungen von Land und Leuten von den vielen Studienfahrten mit Schülern. Nun bin ich selber Zeichner. Wenn ich in seinen Zeichnungen “lese” (was einem dann bis zu einem gewissen Grad möglich scheint)… glaube ich einen Menschen zu sehen, der in letzter Instanz zu sensibel gewesen sein muss, um sich vollkommen der NS-Ideologie hinzugeben, einer Denke von reinen Grobianen und Unmenschen. Aber natürlich weiß ich nicht, ob das stimmt, und inwieweit er da und dort doch darauf reinfiel, wie so viele Menschen seiner Zeit – ich habe ihn ja nie kennengelernt und der Eindruck aus seinen Zeichnungen kann sich nicht mit einem persönlichen vermischen. So wird dieser Teil der Familiengeschichte wohl ungelöst bleiben, aber immerhin glaube ich, den Eindruck gewonnen zu haben, dass Emil klug genug gewesen sein muss, um sich nicht zu den allerschlimmsten Taten hinreissen zu lassen. Das ist zumindest meine große Hoffnung.
Über die Jahre nun sah ich mir den Inhalt des Schrankes sukzessive an und stellte fest: in ihm lagerten so viele illustrative Schätze und Zeitdokumente, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich als einzelner Mensch und Privatperson diese jemals würde heben und mit anderen Menschen teilen können. Und so kam irgendwann der Gedanke auf, ihn dem Museum, an dem er selbst Leiter war, anzubieten. Zumal im Schrank auch ein paar Dinge über das Museum für Volkskunst selbst zu finden waren. Als Kathi Loch neu an das Museum kam, wagte ich einen Versuch und bot den Schrank samt Inhalt dem Haus an. Und glücklicherweise stieß ich damit auf Interesse! So brachten mein Mann und ich im Januar diesen Jahres Emils Schrank in die Stadt, wo er vor langer Zeit bereits einmal gestanden hatte (wahrscheinlich dann eher in seiner Dresdner Wohnung als im Museum selbst). In einer schönen Zeremonie mit Sekt fand die Übergabe statt, und wir freuten uns natürlich über das rege Interesse an Emils Mappenschrank. Doch es kam noch toller: kaum zwei Monate waren vergangen, als mich Frau Loch anrief und mir mitteilte, dass bereits eine Ausstellung mit Emils Schrank in Planung war. Ich war völlig überwältigt von der Schnelligkeit der Auswertung dieses neuen Sammlungs-Objekts im Museum.
Vor einer Woche nun, am 2. Juli war die Eröffnung, von deren Abend man oben Bilder sehen kann, und ich kann sagen: Es ist eine ganz, ganz tolle, interaktive Ausstelllung geworden, in der Emil Lohses Werk und Leben, Zeitgeschichte, aber auch das seiner Familie toll verarbeitet und aufgegriffen wird. Parallel zur Ausstellung wird in einer Art “Schauwerkstatt” ein wissenschaftlicher Mitarbeiter den Inhalt des Schrankes weiter auswerten (am Tisch mit grüner Platte im Hintergrund des ersten Bildes). Wie in so kurzer Zeit so viel wissenschaftliche Arbeit bisher aber schon hat stattfinden können, und so viel Kreativität in das tolle Ausstellungskonzept (für das das Atelier Ampel aus Basel verantwortlich ist), ist mir schier ein Rätsel – aber ich bin mir sicher: Emil Lohse würde die Ausstellung sehr mögen, als Lehrer und an Didaktik interessiert würde er gerade den interaktiven Aspekt daran sehr, sehr schätzen. Und als ich so in der Ausstellung stand, fühlte ich: Die schauen da vielleicht gerade alle von einer Wolke auf uns herab – Emil, Flora Lohse und meine Großmutter – und sind vereint und freuen sich über dieses Wiederankommen in Dresden, der Stadt, in der sie so lange zuhause waren.
Und ein bisschen stolz darauf, dass ich das geschafft habe, bin ich zugegebenermaßen auch.